Montag, 26. Oktober 2009

tempus fugit

Sanft regnet es von oben auf den Spazierenden herab. Das Herunterkommende berührt ihn. Streichelt seinen langen, beigen Mantel. Die Turnschuhe sind von den zahlreichen, wie kleine Seen erscheinenden Pfützen durchnässt. Blätter. Tausendfach gefärbt. Alle Formen. Alt und abgefranst. Noch recht jung und dennoch schon tot. Kurzlebigkeit. Und doch ein endloser Zyklus des Lebens. Tod und Wiederauferstehung. Ein Wunder der Natur. Ein Windstoß wirbelt das herabgefallene Laub auf. Als wenn ein Strohballen über die sandige Straße in einem Westernfilm rollt. Großstadtwestern. Zeit für den Showdown. Highnoon.
Ruhiger Schritt. Entspannung? Anspannung? Er weiß es nicht. Es interessiert ihn nicht. Er lebt. Genießt ihn diesem Moment das Dasein. Warum auch immer. Der Weg, den er gedenkt zu beschreiten, liegt klar ersichtlich vor ihm. Als wäre es ein Miniaturmodell einer Landschaft, eingeschlossen unter einem Glaskasten und versehen mit kleinen Schildchen, die bestimmte Gegebenheiten erklären. Startpunkt, Zielpunkt. Eine Strecke. Von A nach B. Ganz einfach. Ganz simpel. Und doch so verdammt schwer. Und er weiß es. Das ist ihm bewusst. Mehr als alles andere in diesem Moment. Außer vielleicht einer Sache, die ihm noch viel klarer ist, als ihm wohl jemals etwas bewusst gewesen ist.
Die Bahn fährt ein. Schienen vibrieren. Bekannte Geräusche. Tagtäglicher Ohrenterror. Quietschen und Fiepen: Bremsvorgang. Unangenehmer Geruch. Dennoch vertraut, beinahe angenehm. Aber eben auch nur beinahe. Genau das Wort trifft derzeit so viele Tatsachen und Überlegungen: beinahe!
BEINAHE wäre er vor ein paar Tagen von einem Hochhaus gesprungen. BEINAHE hätte er seiner destruktiv-suizidalen Ader nachgegeben. BEINAHE hätte er alles aufs Spiel gesetzt und verloren, was er besessen hat, was ihm wichtig war - nein, IST! Und genau dieses 'beinahe' war der Grund, warum er plötzlich den Moment genießen kann. Carpe Diem. Genau das war das Motto. Nutze den Tag. Lebe den Tag. Sei ein Mensch. LEBE! Das ist das Erstrebenswerte. Er will es umsetzen. Es zeigen. Deswegen ist er auf den Beinen. Sitzt in der Bahn und schaut aus dem Fenster. Betrachtet die vorbeirauschende Landschaft. Beobachtet die Menschen. Die Konturen verformen sich unter seinen Blicken. Neue bilden sich. Veränderung. Der Kreislauf des Lebens. Die sich neugebildeten Konturen gefallen ihm. Er erkennt eine ganz bestimmte Person. Genau die, um dererwillen er nun in der Bahn sitzt. Nur um zu ihr zu fahren. Sie zu sehen. Sei es auch nur einen Moment. Nur eine Zigarettenlänge. Hauptsache sie sehen. Ihr zeigen, dass er noch lebt. Tatsächlich lebt. FÜR sie lebt. In diesem Moment, bei diesem Gedanken, wird es ihm bewusst: Er lebt FÜR sie. Lebt noch WEGEN ihr. SIE war der Grund, warum er im letzten Moment die Kurve gekriegt hat und eben nicht gesprungen ist.
Bahnhof. Das Transportmittel hält. Er steigt aus. Treppen hinunter. Um eine Ecke. Noch eine Ecke. Treppen hinauf. Über eine Ampel. Ein paar Straßen gerade aus, dann zweimal links, einmal rechts. Nur noch ein paar Meter. Er hält kurz an, beugt sich über den Grünsteifen der den Fussgängerweg von den Stellplätzen abgrenzt. Kurzes Würgen. Der Mageninhalt ergießt sich in einem kurzen, knappen Schwall in einen Haselnussstrauch. Er ist nervös. Tierisch nervös. Seit sie sich von ihm getrennt hatte vor einigen Monaten, hat er sie nicht mehr gesehen. Gleich aber wird er vor ihr stehen. Sie sehen. Ihre Augen, in denen er sich verlieren kann, wenn er zu lange in sie hinein blickt. Ihre Haare hoffentlich berühren können, die er so oft liebevoll gestreichelt hat. Mit einem sanften, zögerlichen Kuss ihre Lippen streifen. Er beginnt zu zittern. Sein Finger findet den Klingelknopf. In diesem Moment springt die Playliste seines Mp3-Players auf ein Lied. Nicht irgendein Lied. IHR Lied. Bei dem sie sich das erste Mal geküsst haben. Ein Knacken in der Gegensprechanlage. Ihre Stimme. Seine Beine werden weich. "Ich bin's", mehr bekommt er nicht heraus. Seine Kehle ist wie zugeschnürt. Kurze Pause. Wie wird sie reagieren? Innerlich angespannt erwartet er ihre Antwort. Kein Ton. Kein Wort. Nur der Türsummer ertönt. Er nimmt zwei oder gar drei Stufen auf einmal. Kann es nicht mehr erwarten. Hetzt nach oben. Vierter Stock. Die Tür steht einen Spalt weit offen. Ihr Gesicht schaut ihm entgegen. Das Fragezeichen über ihrem Kopf ist beinahe greifbar für ihn. Er hält inne. Stockt in der Bewegung. Zögerlich, schon fast ängstlich, nähert er sich den letzten Meter. "Hey du." Zwei Worte. Kaum vernehmbar. Und doch ist damit alles gesagt, was er ihr sagen will. Seine Stimme spricht für ihn. Seine Körpersprache. Sie reißt die Tür auf. Ein schneller Satz und sie ist bei ihm. In seinen Armen. Vergräbt ihr Gesicht an seinem Hals. Keiner der beiden sagt ein Wort. Sie brauchen nicht sprechen. In diesem Moment ist alles ausgesprochen. Vergessen sind die einsamen Momente. Die Ungewissheit. Er hat den Weg zurück zu ihr gefunden. Stumm schaut er sie an. Ihre Lippen berühren sich. Wie damals, als sie sich das allererste Mal geküsst haben. Der Zyklus des Lebens. Zeit mag vergehen, manchmal auch verfliegen. Manches aber bleibt stehen und wartet nur darauf, dass jemand die Zeiger zum Weiterdrehen anregt.

Neuigkeiten/Der Autor spricht

Kennt ihr dieses Gefühl? Man will unbedingt seine Seele erleichtern und schnappt sich einfach einen Stift und ein Blatt Papier. Setzt sich an einen Tisch und plötztlich erscheint es einem, als würden sich beide Gegenstände zu einem vereinigen? Das Innerste greifbar machen und darstellen? Es ausformen? Mir geht es hin und wieder so. Derzeit ist wieder so eine Phase, wobei ich auch auf etwas ältere Schreibanfälle stoße und diese hier einstelle. Sie euch, die ihr lest, zeige und zur Verfügung stelle. Vielleicht erkennt ihr euch selbst in dem einen oder anderen Text wieder. Wobei nicht alles, was ich schreibe, tatsächlich mit mir zu tun hat. Manchmal schreibe ich über ganz andere Sachen, als jene, die mir durch den Kopf gehen. Kreative Ablenkung eben.
Um vor allem Kurzgeschichten zu veröffentlichen, habe ich den Bereich "Virtuosität der Tasten und Stifte" eingeführt. Hier kann ich sie einstellen. Sie für mich selbst sammeln. Bündeln und mit geballter Kraft wirken lassen. Kommentare kann man, selbstredend, gerne hinterlassen. Jene, die mich gut bis sehr gut kennen, werden mich, trotz allen Abweichungen, aber wohl dennoch immer wieder in der einen oder anderen geschriebenen Zeile wiedererkennen.

Sadness in the Dawn

...los demonios somos nosotros...

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